Nuklearfreie Kommunen zum Brexit

Der Brexit ruft die Nuclear Free Local Authorities (NFLA) mit Sitz in Manchester auf den Plan. Kurz nachdem sich die Briten am 23. Juni 2016 mit knapper Mehrheit (51,9 Prozent) für den Austritt aus der Europäischen Union (Brexit) entschieden haben, veröffentlichen die NFLA eine Stellungnahme, die es in sich hat. Der Brexit wird beträchtliche Folgen für die einheimische und die internationale Atompolitik, die Energie- und Verteidigungspolitik zeitigen, so die NFLA.

Pressemitteilung des Nuclear Free Local Authorities Steering Committee, 30.6.2016 / Übersetzung PLAGE (HIER finden Sie den Originaltext)

BREXIT und Atompolitik

Die britische Regierung, die Europäische Kommission, die Nuklearindustrie sowie die Atomregelungsbehörden werden sich mit einer Reihe kritischer Themen auseinandersetzen müssen.

>>> Das Wählervotum könnte sich auf Investitionsentscheidungen für atomare Neubauvorhaben negativ auswirken, insbesondere auf Hinkley Point C (HPC), aber auch auf die Atomprojekte in Wylfa (SW des Landes) und Sellafield Moorside (NW). Die finanziellen Risiken von HPC haben sich erhöht, und umso virulenter stellt sich für die französische Regierung die Frage, inwieweit sie den Electricité de France (EDF) als künftige Errichterin und Betreiberin der zwei HPC-Blöcke weiter unterstützen soll. Mit der neuen Führung der Konservativen Partei kann sich die bisherige Unterstützung innerhalb der britischen Regierung für das Vorhaben ändern. Boris Johnson hat das Projekt Hinkley Point C einen „völlig irren Deal mit den Franzosen, mit EDF Energy“ genannt, „für eine Atomstromproduktion, die nicht zu funktionieren scheint und mit rund 93 Pfund pro Kilowattstunde unglaublich teuer zu werden verspricht“ (London Mayor’s Question Time, 16.9.2015). Der NFLA-Verband stimmt mit dieser Sicht überein.

Anmerk. PLAGE: Inzwischen, nach der pro-Hinkley Entscheidung der britischen Regierung vom 15.9.2016, ist diese Sicht überholt. Lesen Sie HIER in der Pressemitteilung von Global2000, warum Hinkley dennoch nie fertig gebaut werden wird.

>>> Jedoch kann der Volksentscheid bedeuten, dass die gerichtliche Klage Österreichs gegen die EU-Kommission wegen der Genehmigung staatlicher Beihilfe für HPC nicht weiterverfolgt werden kann und dass auf diese Weise größerer Spielraum für neue Nuklearprojekte in GB entsteht, vorausgesetzt es finden sich dafür Investoren.

Anmerk. PLAGE: Dass die österreichische Klage vor dem Europäischen Gerichtshof auf jeden Fall weiterläuft, weil sie sich nicht gegen die britische Regierung, sondern gegen die EU-Kommission richtet (und damit auch gegen "Nachahmer" der britischen Atomsubventionspolitik), wurde bereits in  EURATOM Watch Nr. 3 betont. /

>>> Über der Stellung des EURATOM-Vertrages im britischen Recht schwebt nunmehr ein Fragezeichen. Alle EU-Mitglieder stehen unter dem EURATOM-Vertrag, und dessen Stellenwert im britischen und im EU-Recht bedarf einer Klärung. EURATOM ist zum einen eine Beschaffungsagentur, die Nuklearbrennstoff bereitstellt und die Uranbervorratung koordiniert. Zum andern führt die Organisation Sicherungsmaßnahmen (safeguards) in Nuklearanlagen und an nuklearem Material durch, mit denen sie überprüft, dass GB kein Spaltmaterial für militärische Zwecke abzweigt.

Anmerk. PLAGE: Jein… Diese Aussage ist jedenfalls zu simpel: Woher sonst als aus den eigenen Atomanlagen – einschl. der Wiederaufbereitung in Sellafield – nähme GB naheliegenderweise das Spaltmaterial für seine A-Bomben? Was die NFLA hier meint, sind wohl Safeguards gegen die Abzweigung von Spaltmaterial zugunsten nicht-staatlicher Interessenten (z.B. mafiöser oder terroristischer Organisationen).

EURATOM sorgt auch für die Strahlenschutzgrundlagen, sowie - über die Gemeinsamen EU-Forschungszentren - für Forschung und Entwicklung in den Bereichen Reaktorsicherheit und Atommüllentsorgung; GB leistet dazu jährlich einen substantiellen Beitrag. – Eine noch unbehandelte Frage im Fall eines britischen Austritts aus dem EURATOM-Vertrag ist, wer die EURATOM-Inspektoren bei der Kontrolle des Spaltmaterials (also hinsichtlich der safeguards) ersetzt. Denn die Internationale Atomenergieagentur (IAEA) gilt als überbeansprucht und unterfinanziert.

Anmerk. PLAGE: Die IAEA führt die Überwachung gegen Abzweigung und mißbräuchliche Verwendung von Nuklearmaterial weltweit durch, tritt diese Funktion im Bereich der EU jedoch an EURATOM ab. – Inwieweit diese Überwachung die Weitergabe solchen Materials an atomwaffenerpichte Staaten einerseits und die Abzweigung durch mafiöse Netze verhindert, steht auf einem anderen Blatt. /

 >>> Die World Nuclear Association (WNA, Weltverband der Atomindustrie) hat die Ansicht geäußert, dass [in GB] 1.000 Stellen in der Nuklearforschung verloren gehen könnten, da dafür 55 Millionen Pfund von der EU-Kommission zur Verfügung gestellt werden.

Anmerk. PLAGE: Hier bleibt unklar, ob dies der Betrag nur für die britische Beteiligung an der EU-Atomforschung ist und welchen Zeitraum er abdeckt. /

Energie- und Klimapolitik (leicht gekürzt)

Der Austritt aus der EU könnte es einer kommenden britischen Regierung ermöglichen, von Selbstverpflichtungen der EU zu Kohlendioxidreduktionen und Klimazielen Abstand zu nehmen. Und er könnte den Druck auf GB verringern, sich weg von fossilen Brennstoffen hin zu erneuerbarer Energie zu bewegen.

>>> Zwar ist es unwahrscheinlich, dass die britische Regierung von ihren Kohlendioxid-Reduktionszielen für 2020 abrücken würde, da sie sich bis dahin wohl in einer Verhandlungs- und Übergangsphase mit der EU befinden wird. Nach 2020 jedoch könnte GB seine Verpflichtungen einer Revision unterziehen.

>>> Geplante Stromnetzverbindungen für die Versorgung mit kohlendioxidarmer Elektrizität zwischen GB und anderen Ländern, zB Frankreich, Irland, Belgien, die Niederlande und Norwegen könnten noch einmal überdacht werden und mehr kosten.

>>> Die unterschiedlichen Energiepolitiken der schottischen Regierung einerseits und der britischen und der walisischen Regierung andererseits könnten sich noch weiter auseinanderentwickeln.

>>> Investitionen in Vorhaben mit Erneuerbarer Energie könnten von dem Wählerentscheid stark in Mitleidenschaft gezogen werden. Siemens hat bereits angekündigt, dass es alle Investitionen auf Eis legt, die es in GB im Bereich der Offshore-Windkraft und anderer EE-Technologien geplant hat. (Quelle: THE GUARDIAN, 28.6.2016.)

>>> Auch die positiven, fortschrittlichen Initiativen im Bereich kommunaler Energieversorgung und Bürger-Energiegenossenschaften könnten bedroht sein. Viel wird hier davon abhängen, ob Großbritannien sich entschließt, im EU-Energiebinnenmarkt zu bleiben.

Verteidigungspolitik (Auszug)

Die finanziellen Auswirkungen eines Austritts aus der EU können das Budget der britischen Regierung und ihren Spielraum für den Ersatz des Trident-Atomwaffensystems einengen.

Anmerk. PLAGE: Diese an sich positive Aussicht wurde durch den raschen Beschluss der neuen Regierung,  das Trident-Erneuerungsprogramm beizubehalten, bereits zunichte gemacht. Das passt auch zum Beschluss von May & Co. Mitte September, an den geplanten zwei Reaktoren von HINKLEY POINT C festzuhalten. Denn hinter dem verbissenen Festhalten an diesem AKW-Neubau kann man auch atommilitärische Motive sehen. /

Die Möglichkeit eines zweiten Referendums über die Loslösung Schottlands schafft von neuem die Aussicht, dass London einen Ausweichstandort für die Trident-U-Boote (Atomraketenträger) finden muss. Dies könnte laut den vorhandenen Analysen zig-Milliarden Pfund kosten.

Kommunal-regionaler Handlungsspielraum

Die Abstimmung wird erhebliche Auswirkungen auf die britische Kommunal- und Regionalpolitik und auf die grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit Irland haben. Zahlreiche Programme, die die Entwicklung und Umsetzung innovativer Energielösungen auf dezentraler Ebene zum Ziel haben, hätten sich um EU-Förderung bemüht. Nun können Einschnitte bei den kommunalen und regionalen Budgets nicht ausgeschlossen werden.

Als eine Organisation mit Mitgliedern in Großbritannien und in Irland werden die NFLA möglicherweise auch neu überlegen müssen, wie sie auf der irischen Insel operieren, wo das Gesamtirische Forum (All-Ireland Forum) sehr effiziente Arbeit geleistet hat; Mandatare beiderseits der Grenze wollen diese Kooperation unbedingt fortsetzen.

Die NFLA werden die Zusammenarbeit mit den von der Stadt Wien angeführten „Städten für ein atomfreies Europa“ in vollem Umfang aufrechterhalten, um dem Bestreben nach neuen Atomkraftwerken in Europa entgegenzutreten, Verbesserungen bei der Sicherheit von Atomanlagen zu verlangen und auf eine Zukunft mit erneuerbaren, nachhaltigen Energien in Europa hinzuwirken.