Die einzig nachhaltige Investition ist das Abschalten und ein Neubauverbot für alle Atomkraftwerke. Zukunftsweisender Wind kommt von erneuerbarer, nicht von radioaktiver Seite.

Die Aufnahme von Atomenergie in die EU-Taxonomie, den Kriterienkatalog für ökologisches Wirtschaften, stimmt nachdenklich. Und wütend. Eine Standortbestimmung von PLAGE-Mediensprecherin Julia Bohnert. 

(9.1.2022 und laufende Updates). Die Erstellung eines EU-weiten Gütesiegels für grüne Investitionen, die Taxonomie, ist der Versuch, Wirtschaft und Umwelt sinnvoll zu vereinen. Die Taxonomie soll AnlegerInnen und InvestorInnen eine glaubwürdige Orientierung bieten, um die Umwelt- und Klimafreundlichkeit von Wirtschaftstätigkeiten einstufen zu können. Europaweit sollen dadurch Finanzprodukte in ökologisch nachhaltige(re) Bahnen gelenkt werden. Die Taxonomie ist ein Pfeiler des umfangreichen „EU-Klimaschutzpaketes“ Green Deal, der Bestrebung, Europa bis 2050 klimaneutral zu machen. Das Gütesiegel für grüne Finanzprodukte wird in der EU mehr als 6000 Unternehmen unmittelbar betreffen, darunter Banken, Versicherungen, Pensionskassen und Rentenfonds. Auch die Politik der Europäischen Investitionsbank.

Die konkrete Ausgestaltung der Taxonomie-Verordnung, die bereits am 12. Juli 2020 in Kraft trat, war monatelang ein Zankapfel zwischen den EU-Mitgliedsländern. Vor allem die mögliche Aufnahme von Atomenergie und Erdgas führte zu heftigen Debatten. Die Atomlobby trat auf den Plan und verstärkte ihr Lobbying nachweislich.

In der Silvesternacht kam schließlich der Paukenschlag, der sich bereits in den vergangenen Monaten abgezeichnet hatte. Die EU-Kommission verschickte den Entwurf für einen Rechtsakt, der Atomenergie und Erdgas in die Taxonomie aufnimmt und sie als notwendige und grüne Übergangstechnologien klassifiziert. Ein erwartbarer Paukenschlag, der dennoch schockiert.

Atomenergie = grün? Laufzeitverlängerung eines aussterbenden, hochriskanten Industriezweiges.

Es gibt keinen sachlichen Grund für die Entscheidung der EU-Kommission, Atomenergie in den Kriterienkatalog nachhaltigen Wirtschaftens aufzunehmen. Nachhaltig zementiert wird dadurch ein vergangenheitsorientiertes, undemokratisches atomar-fossiles Energiesystem, das in einem zukunftsorientierten Europa keinen Platz hat. Nachhaltig zerstört wird dadurch die Glaubwürdigkeit der Taxonomie. Die Entscheidung ist ein tragischer Rückschritt, der zum einen wesentliche Nachteile und Risiken der Atomkraft und zum anderen den immensen Fortschritt bei den Erneuerbaren Energien salopp ignoriert. Ein Rückschritt nicht nur für die Finanz- und Umweltpolitik der Union, sondern für uns alle.

Um das Pariser 1,5-Grad-Ziel überhaupt noch und damit die unumkehrbaren Kipppunkte im Klimasystem nicht zu erreichen, sind die kommenden zehn Jahre entscheidend. Wir haben keine Zeit für phantastisch-fanatische Experimente. Die Atomenergie deckt derzeit einen Anteil von knapp 11 Prozent am globalen Strombedarf. Und damit vom weltweiten Gesamtenergiebedarf (Strom, Wärme, Verkehr) noch viel weniger. Ein rascher Zubau dieser überschätzten Nischenindustrie auf namhafte Kapazitäten ist unrealistisch. Daran würde auch die kommerzielle Markteinführung der Mini-AKWs Small Modular Reactors, die derzeit nur auf dem Papier existieren, nichts ändern.

Die durchschnittliche Bauzeit eines AKWs beträgt 10 Jahre bis zum Netzanschluss. Seit dem Peak des globalen AKW-Zubaus im Jahr 1976 befindet sich die Atomenergie auf dem absteigenden Ast. Längst haben gefährliche Laufzeitverlängerungen den Neubau von AKWs abgelöst. In der EU betreiben 14 von 27 Mitgliedsländern keine Atomkraftwerke. Gebaut wird derzeit in Frankreich (seit 2005, Flamanville), in Großbritannien (seit 2018, Hinkley Point C) und in der Slowakei (seit 1985, Mochovce 3 & 4). Ende 2021 wurden in Deutschland drei von sechs Reaktoren abgeschaltet, das finnische AKW Olkiluoto ging ans Netz (Baubeginn 2005). In der EU übertraf im Jahr 2020 die Stromerzeugung aus Erneuerbaren Energien (38%) jene aus atomar-fossilen Brennstoffen. 

Atomstrom ist die teuerste Energiegewinnungsform. Seit ihrem Bestehen kam die Atomtechnologie nicht ohne staatliche Finanzhilfen und Förderinstrumente wie EURATOM aus. Es gibt praktisch keine privaten Investments in eine unrentable Atomenergie. Strom aus Erneuerbaren wie Solar und Wind ist um ein Vielfaches günstiger als Atomstrom. Mycle Schneider, Herausgeber der unabhängigen und jährlich erscheinenden Analyse World Nuclear Industry Status Report, bringt diesen Umstand in einem Interview mit dem DW folgendermaßen auf den Punkt: "Atomkraft ist etwa viermal so teuer wie Wind oder Solar und der Bau dauert (mindestens) fünfmal so lange." 

Es ist zu erwarten, dass die Taxonomie daher vor allem staatliche Finanzmittel für eine nicht konkurrenzfähige Atomenergie ermöglicht – Frankreich braucht diese dringend. Die Aufnahme von Atomenergie in die Taxonomie ist die Laufzeitverlängerung eines aussterbenden, hochriskanten Industriezweiges. Zudem blockiert die Mobilisierung von Finanzmitteln für die Atomindustrie Investitionen in Erneuerbare Technologien und verschlimmert dadurch die Klimakrise.

Umweltschäden: Verletzung des Taxonomie-Grundsatzes

Bislang fehlt jeglicher Beweis, dass Atomenergie als Investition die sechs in der Taxonomie als Zielvorgaben definierten Umweltziele erfüllt beziehungsweise keines davon beeinträchtigt. Atomenergie verletzt vielmehr den “Do No Significant Harm“ Grundsatz der Taxonomie (sinngemäß: „füge der Umwelt keinen signifikanten Schaden zu“).

Atomenergie ist umweltfreundlich? Nur dann, wenn der umweltschädliche Uranbergbau mitsamt seinem enormen Energie-, Flächen- und Wasserverbrauch unberücksichtigt bleibt. Und die radioaktive und chemische Verseuchung gesamter Landstriche in Regionen des Südens „ausgelagert“ wird. Die Frage der Langzeitlagerung von radioaktivem Atommüll und dessen sicherer Abschottung von der Biosphäre ist – siebzig Jahre nach Beginn des Atomzeitalters – weiterhin ungelöst. Atommüll bleibt aufgrund nahezu ewig strahlender Bestandteile weiterhin ein unkalkulierbares technisches, logistisches, finanzielles und gesellschaftspolitisches Risiko, das jeden Tag aufs Neue produziert und potenziert wird. Konzepte als erfolgreiche Umsetzung zu behandeln, ist eine Anmaßung.

Es ist auch perfide, die Atomtechnologie als eine Technik unter vielen zu diskutieren. Das Katastrophenpotential dieser Energiegewinnungsform ist einzigartig. Das Risiko von atomaren Unfällen mitsamt ihren unumkehrbaren Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und Umwelt ist empirisch nachgewiesen. Atomenergie als nachhaltig zu deklarieren ist daher auch ein Affront gegen das unermessliche Leid all jener Menschen weltweit, die radioaktive Verstrahlung unverschuldet erleiden müssen und dadurch ihre Lebensräume verloren haben.

Klimaschäden: Die Nuklearinfrastruktur hat ein Problem mit dem Klimawandel

Die Nuklearinfrastruktur ist eine Hochrisikoinfrastruktur, die mit dem Klimawandel vor ein großes Problem gestellt wird. Durch extreme Wetterereignisse wie Stürme, Überschwemmungen, Dürren oder Hitzewellen kann die Sicherheit von Nuklearanlagen noch weniger als im „regulären“ Dauerbetrieb gewährleistet werden. Für den Betrieb von Atomkraftwerken und die Lagerung abgebrannter Brennelemente werden beispielsweise enorme Mengen an Wasser benötigt. In Frankreich müssen in einem hitzereichen Sommer aufgrund sinkender Flusspegel und wärmerer Flüsse zahlreiche AKWs abgeschaltet werden. Ein klimatischer Teufelskreis. Atomenergie kann alleine aus diesem Grund kein Klimaschutz sein.

Atomenergie ist auch nur dann CO2-arm, wenn (zu) viele relevante Faktoren ausgeblendet werden, wie etwa der Abbau des endlichen Rohstoffes Uran außerhalb Europas; Uran- und Atommülltransporte; der energieintensive Bau & Rückbau von Anlagen oder der ewige Betrieb von Langzeitlagern. Eine vermeintliche CO2-Armut reicht als Kriterium zudem nicht aus, um die Anforderungen der Taxonomie-Verordnung zu erfüllen.

Die einzig nachhaltige Investition für Mensch, Natur und Klima: das Abschalten und ein Neubauverbot für alle Atomkraftwerke. 

Atomenergie ist eine klima- und umweltschädliche Geldanlage, welche die menschliche Gesundheit existentiell bedroht. Atomenergie hat in einem zukunftsfähigen, wirklich nachhaltigen Europa nichts verloren. Sie ist unvereinbar mit der notwendigen Durchsetzung eines demokratischen, flexiblen, emissions- und strahlungsfreien Energiesystems. Das ist möglich, wenn es die Politik endlich möglich machen will. Die einzig nachhaltige Investition für Mensch, Natur und Klima ist das Abschalten und ein Neubauverbot für alle Atomkraftwerke. Und nicht ganz unwesentlich: auch für den Weltfrieden. Denn jedes AKW, sei es noch so mini, ermöglicht den Zugriff auf spaltbares Material, das hervorragend für militärisch-terroristische Zwecke eingesetzt werden kann. 

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