Atomkritischer Arzt und Lebensfreund verstorben

Dr. Wolfgang Rucker: Von Tschernobyl(-Fallout) bis Siemens-Atomgeschäfte

Diesen Samstag, am 3. Februar 2024, wird mit Dr. Wolfgang Rucker ein langjähriger Mitstreiter der Salzburger Plattform gegen Atomgefahren (PLAGE) sowie Mitbegründer der Elfi-Gmachl-Stiftung Atomfreie Zukunft (EGS) in Salzburg-Gnigl bestattet.

Er ließ Schwangere und junge Eltern nicht im Tschernobyl-Regen stehen

Ziemlich stürmisch „schlitterte“ der Sänger und Genießer 1986 in das Antiatom-Engagement. Die teils extreme Sensibilisierung seiner Patientinnen, die angesichts gesperrter Spielplätze und verstrahlter Milch nach der Reaktorexplosion in Tschernobyl bei ihm, dem Frauenarzt, Rat suchten, steigerten seine Wahrnehmung der Gefahren der Radioaktivität schlagartig und nachhaltig. Sie wurde durch die konfliktgeladene Auseinandersetzung um die geplante Atommüll-Aufbereitungsanlage (WAA) im bayerischen WAA Wackersdorf noch gesteigert. Es war aber die Aufarbeitung von Tschernobyl, die dem Arzt nahe ging und seine Courage wirklich forderte.  

Unter den Bildungsinstitutionen in Salzburg nimmt sich damals, im Frühsommer 1986, das Bildungshaus St. Virgil mit einem Informationsabend des Themas an. Dazu hat es einen Kinderarzt aus Niederösterreich gefunden. Doch keinen Arzt aus Salzburg. Schließlich stösst St. Virgil auf Wolfgang Rucker. Er sagt zu, unter anderem aufgrund eigener Erfahrung: als junger Arzt hat er längere Zeit auf einer Krebsstation gearbeitet, als es dort noch „ziemlich ungeschützt“ zuging. Und als Gynäkologen ist ihm viel deutlicher bewußt als vielen BerufskollegInnen, dass radioaktive Strahlung auf Föten und Kleinkinder um ein Vielfaches stärker wirkt als auf Erwachsene. 

Zur Veranstaltung in St. Virgil werden, denkt er, „ein paar Leute“ kommen. Dann sind Hauptsaal, Nebensaal und die Gänge zum Bersten voll! Die Menschen sind begierig nach Wissen über dieses Unsichtbare.  

Ein paar Wochen später setzt St. Virgil Dr. Rucker von einem Brief in Kenntnis. Eine Gruppe Kinderärzte erhebt darin schwere Vorwürfe: Wie kann er als Arzt solche Panikmache betreiben! Er leiste damit Abtreibungen Vorschub, und er habe Heilung per Homöopathie versprochen. Keiner der unterzeichnenden Ärzte war allerdings bei der Veranstaltung. Zum Glück hatte St. Virgil eine Bandaufzeichnung vom Infoabend. Bei einem Treffen konnten sich die Ärzte anhand dieses Bandes ein Bild vom tatsächlichen Verlauf des Abends machen und – entschuldigten sich bei Rucker.  

„Strahlenfreie Milch“ und erster Biobauern-Markt  

In dieser Episode war er mit „im Auge des Sturms“. Meist und lieber agierte der hoch geschätzte Gynäkologe jedoch als Einfädler und Ideenproduzent. So kennt er den damaligen Obmann der noch raren Biobauern in Salzburg, Leopold Prenninger. Dieser führt die Landwirtschaft am Erentrudishof des Stiftes Nonnberg. Nach anfänglichen Widerständen erreicht Dr. Rucker im Gespräch mit der Oberin: Erstens, den Kühen wird Trockenfutter aus der Zeit vor dem Tschernobyl-Regen verfüttert; zweitens, täglich wird dennoch die Milch mit Strahlenmessungen kontrolliert; drittens, die unbelastete, vor allem für Kleinkinder so wichtige Milch gibt es auf Erentrudis ab Hof.  

Parallel dazu entwickeln die Salzburger Mütter für atomfreie Zukunft ein ähnliches Konzept: Mehrere Biobauern liefern „strahlenfreie Milch“ ins Schloß Mirabell, wo sie durch die Müttergruppe verkauft wird. Auch bei dieser Entstehung des ersten Salzburger Biobauernmarktes stehen Wolfgang Rucker und seine Frau Franziska mit Rat und Tat zur Seite. 

Medizinische Tschernobyl-Hilfe 

Wolfgang Ruckers Gespür und Tatkraft erweisen sich in der Tschernobyl-Herausforderung ein drittes Mal. Er unterstützt die ersten medizinischen Hilfslieferungen für Tschernobyl-Geschädigte. Medikamente und ein Ultraschallgerät werden in die weißrussische Hauptstadt Minsk und in das schwer verseuchte Gomel transportiert. Franziska Rucker begleitet mit dem ORF Salzburg und dem sprach- und ortskundigen Völkerrechtler Michael Geistlinger von der Universität Salzburg den Transport. Im Zuge dessen kommt es zum Kontakt mit einem dortigen Kinderarzt, Dr. Pavlenko, der dadurch ein strahlenkrankes Mädchen zur Behandlung nach Salzburg bringen kann. Die Verbindung mit dem Kinderspital im LKH Salzburg wird eingefädelt. Lena wird im Landeskrankenhaus operiert. Zunächst erfolgreich. Wenige Jahre später allerdings ist die Wirkung der Strahlen stärker als ihr junges Leben… Umso eindringlicher weiß der Arzt, warum er gegen die zynischste aller Energien kämpft. Bis zuletzt.

„Kritische Ärzte“, Siemens-Atomgeschäfte und vorsichtiges Röntgen

Später war Rucker mit der Salzburger Gruppe „Kritische Ärzte“ Frontfigur in den österreichischen Aktionen gegen die SIEMENS-Atomgeschäfte. Hatte der Konzern noch den Reaktordruckkessel „unseres“ AKW-Zwentendorf geliefert, stieg er um die Jahrtausendwende auch aufgrund des „Siemens-Boykotts“ der deutschen und österreichischen AtomgegnerInnen sukzessive aus der Atomwirtschaft aus. Dem Generaldirektor der Siemens Österreich AG, Albert Hochleitner hatten unter anderem ein Gespräch in der Salzburger Siemens-Zentrale und eine Demonstration der PLAGE und der „Kritischen Ärzte“ vor der Firmen-Niederlassung in Salzburg-Bergheim gehörig zugesetzt. 

In der praktischen Arbeit befürwortete Dr. Rucker den vorsichtigen und nicht „automatischen“ Einsatz von Strahlen in der Medizin, aber etwa auch alternative Diagnoseverfahren zum Röntgen. 

In dankbarer Erinnerung für die PLAGE: 

Heinz Stockinger (Ehrenobmann), Peter Machart (Obmann),  
Gerhild Kremsmair (Stv. Obfrau), Thomas Neff (Kassier)

Ausführliches, zweiteiliges PLAGE-Porträt zu Dr. Rucker in der Plattform-NEWS 2/06 (S. 2) sowie Plattform-NEWS 4/06 (S. 10)

Bild oben: Dr. Wolfgang Rucker bei einer Demonstration vor dem AKW Temelín (Anfang der 1990er Jahre)
Bilder Mitte: "Kritische Ärzte" vor der damals neu eröffneten SIEMENS-Niederlassung in Salzburg/Kasern (6.3.2001)
Bild unten: Dr. Wolfgang Rucker (ca. 2022)