Ent-Wirrungen

BREXIT: Austritt aus EU - und aus EURATOM?

Die Briten haben sich am 23. Juni 2016 mit knapper Mehrheit (51,9 Prozent) für den Austritt aus der Europäischen Union (Brexit) entschieden. Ian Fairlie, britischer und kritischer Strahlenexperte, bringt es auf den Punkt: "So bald wird sich überhaupt nichts Entscheidendes tun, nun nach dem Brexit-Referendum".

Andererseits kann von Atomgegnerseite nicht früh genug damit begonnen werden, über die Folgen des Brexit in dem vom Mainstream noch ignorierten Bereich des EURATOM-Vertrages nachzudenken und zu diskutieren. Der ganz konkrete, greifbare Anknüpfungspunkt dafür ist der europäische Atomstreitfall schlechthin: das geplante AKW Hinkley Point C und dessen von der EU genehmigte Subventionierung.

Brexit und EURATOM?

Heinz Stockinger hat Ende Juni im europäischen [no-nukes]-Netzwerk den Artikel von Hans-Josef Fell mit dem Titel „Brexit gilt auch für EURATOM“ sowie die Wortmeldungen mehrerer Netzwerk-TeilnehmerInnen kommentiert. Der Artikel von Hans-Josef Fell erschien in seinem Newsletter sowie HIER bei EurActiv. Die Energy Post veröffentlichte den Artikel von Fell auf Englisch.

Heinz Stockingers Beitrag beabsichtigt, zur Klärung folgender Grundfragen beizutragen:

>>> Wie ist das Verhältnis zwischen dem EURATOM-Vertrag und dem Vertrag von Lissabon (im Speziellen, dem EU-Vertrag und dem AEU-Vertrag, s.u.)?

>>> Was bedeutet das einerseits rein rechtlich, andererseits polit-praktisch für die Brexit-Verhandlungen zwischen Großbritannien und den verbleibenden 27 EU-Mitgliedern?

Dabei ist, wie Fell schreibt, das Entscheidende, jetzt die politische Debatte um Brexit und EURATOM zu pushen, damit das Vereinigte Königreich auch tatsächlich aus dem EURATOM-Vertrag aussteigt. Dieser Schritt eröffne gänzlich neue Dimensionen für politische Handlungen, die dann unweigerlich die Essenz des EURATOM-Vertrages betreffen.

PLAGE Analyse

Im Folgenden der Klärungsversuch von Heinz Stockinger:

(HIER finden sie den Beitrag unter der Sektion "comments" auch auf Englisch):

1) Bisher und bei allen 28 Mitgliedstaaten (MS) gingen die Aufnahme in die Europäische Union und in die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM) praktisch automatisch miteinander einher. Kein Mitglied ist aus einer der beiden Gemeinschaften ausgetreten. Dadurch kann der Eindruck entstehen, dass ein Austritt aus der EU zwangsläufig, d.h. von Rechts wegen, auch ein Austritt aus EURATOM (und den entsprechenden Verträgen) heißt. Und umgekehrt.

2) In den aktiv atomfreien bzw ausstiegsorientierten MS wie Österreich und Deutschland wird die Illusion einer solchen zwangsläufigen Koppelung zwischen den EU-Verträgen* und dem EURATOM-Vertrag von den Regierungen und den Parteien dahinter aufrechterhalten. Und zwar als Argument gegen die EURATOM-Austrittsforderung der Antiatomorganisationen, die einhellig einen Widerspruch darin sehen, einerseits „atomfrei“ zu sein oder zu werden, andererseits aber in dem Atomfördervertrag und Atomkraftklub schlechthin zu bleiben.

3) Die Rechtslage ist jedoch eindeutig in drei Gutachten dargelegt, die im Laufe der Jahre von drei Fachleuten des Völker- und Europarechts präsentiert wurden: zum ersten in dem umfassendsten der drei (von Hans Josef Fell in seinem Artikel „Brexit gilt auch für EURATOM“ erwähnt und von ihm in Auftrag gegeben), im Jahr 2007 von Prof. Bernhard WEGENER, Universität Erlangen-Nürnberg, erstellt; sodann in zwei Gutachten aus Österreich: von Prof. Manfred ROTTER, Universität Linz (im Auftrag der Oberösterreichischen Landesregierung, 2003), und von Prof. Michael GEISTLINGER, Universität Salzburg (für die dänische NGO NOAH, 2005). Völlig unabhängig voneinander kommen alle drei zum gleichen Schluss: Da der EURATOM-Vertrag (EAG-V) seit jeher vom Unionsvertrag (Vertrag über die Europäische Union, EUV, abgeschlossen 1992 in Maastricht, mehrfach abgeändert, zuletzt reformiert durch den Vertrag von Lissabon) getrennt und eigenständig ist, ist es für einzelne Mitgliedstaaten absolut möglich und rechtens, aus dem EURATOM-Vertrag auszutreten, zugleich aber in der EU zu bleiben.

Und es ist auch praktisch machbar: Seit dem Beschluss des jetzt gültigen Vertrages von Lissabon, der am 1. Dezember 2009 in Kraft trat, ist dem EURATOM-Vertrag ein Artikel 106a angefügt, der für den Fall des angestrebten Austritts auf entsprechende Bestimmungen im Unionsvertrag (EUV) und im "Vertrag über die Arbeitsweise der Union" (AEUV, früher EWG-, dann EG-Vertrag, zuletzt umbenannt und reformiert  durch Vertrag von Lissabon) verweist. N.B. dies bedeutet keine zwangsläufige politische Koppelung von EURATOM- und EU-Austritt, keine unabdingbare Gleichzeitigkeit einer Kündigung des einen und des anderen Vertrags, sondern bezeichnet lediglich das Prozedere wie im Falle eines Austritts aus egal welchem oder wievielen der Verträge.

Davon abgesehen war aber laut den erwähnten Gutachten durchaus bereits vor „Lissabon“ ein EURATOM-Austrittsverfahren möglich, nämlich nach allgemeinen Völkerrechtsgrundsätzen und -leitlinien. HIER finden Sie ein Informationspapier, das die rechtliche Situation eines EURATOM-Austritts vor und nach Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages beleuchtet (erstellt von der PLAGE, atomstopp_atomkraftfrei leben und den Müttern gegen Atomgefahr Freistadt).

4) Völkerrechtler Prof. Michael Geistlinger, ganz aktuell zum angeblichen „Automatismus“ von EU- und EURATOM-Beitritt und -Austritt befragt:

„Auch wenn bei den Beitrittsverhandlungen in der Praxis EURATOM mit dem EUV und dem AEUV einfach mitläuft,“ – im Englischen wird von Beitritt by default gesprochen –  „bedarf es eines eigenen Beitrittsaktes (= ausdrückliche Willenskundgebung für den Beitritt zu EURATOM). So ist es umgekehrt auch für den Austritt. By default bedeutet daher die Wahrnehmung einer schlampigen Verhandlungspraxis. Immer ist ein eigener Beitritts- und Austrittsakt notwendig. Es ist daher keineswegs ausgemacht, dass Großbritannien zugleich mit dem Austritt aus der EU auch aus EURATOM austritt.“ Geistlinger hofft allerdings, „dass das der Fall sein wird. Es würde unsere Anti-Atom- und EURATOM-Austrittsbemühungen erheblich begünstigen.“ (Email an PLAGE, 11.7.2016).

5) Das alles bedeutet, dass – was auch immer unwillige Regierungen oder politische Kräfte behaupten mögen – Mitgliedstaaten EURATOM verlassen können, und zwar ohne die EU zu verlassen. Es ist schlicht eine Sache von Verhandlungen. Komplexe Verhandlungen gewiß, und sei es nur, weil ein solcher Akt noch nie vollzogen wurde. Doch mit Sicherheit viel weniger kompliziert als die, die nun nach dem Brexit anstehen und in denen es um den Austritt aus der EU insgesamt geht.

6) Das bedeutet aber logischerweise weiters, dass für Großbritannien in der gegenwärtigen Situation auch die umgekehrte Möglichkeit besteht: Die neue britische Regierung kann sich dafür entscheiden, den Brexit umzusetzen (d.h. den Vertrag über die Europäische Union, EUV, sowie den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, AEUV, zu kündigen), seine EURATOM-Mitgliedschaft jedoch aufrechtzuhalten. Die anderen pronuklearen Mitgliedstaaten würden sicherlich darauf hinwirken, dass eine solches Bemühen Erfolg hat, damit sie GB als EURATOM-Partner behalten könnten. Prinzipiell vertrüge sich das auch mit größerer Entscheidungsfreiheit der Briten hinsichtlich des AKW Hinkley Point C. Denn das Land bräuchte sich nicht mehr an die EU-Regeln – und ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes zur Klage Österreichs – in Sachen Wettbewerb und staatlicher Subventionen zu halten.*** Es sei denn freilich, daß die Brexit-Verhandlungen zwischen EU und GB die Aufrechterhaltung der Subventionsbestimmungen ergeben!

7) Das Schicksal von Hinkley Point C (HPC) ist nicht bloß eine Sache von Subventionen. Ist das Projekt inzwischen nicht in derartige Widrigkeiten geraten, dass jegliche neue britische Regierung froh über die Gelegenheit sein könnte, es sterben zu lassen? Die neue Regierung kann das ohne großen Gesichtsverlust, während David Cameron sein Gesicht auf HPC verpfändet hatte. Alle wissen, dass die Hinkley-Kartoffel fast zu heiß geworden ist. Und dass der Zeitpunkt, sie fallen zu lassen, JETZT ODER NIE ist.

Ferner ist Cameron der Brexit-Verlierer, Johnson der Gewinner. David Cameron tritt ab, Boris Johnson bleibt in den Kulissen einflussreich. Cameron hat sich mit aller Macht an HPC geklammert, Johnson hat das AKW-Vorhaben „diesen völlig irren Deal mit den Franzosen, mit EDF Energy“ genannt, „für eine Atomstromproduktion, die überhaupt nicht zu funktionieren scheint und mit rund 93 Pfund pro Kilowattstunde unglaublich teuer zu werden verspricht“ (Fragestunde des Bürgermeisters, London, 16. September 2015). Nun kann man sich vermutlich nicht darauf verlassen, dass Johnson nicht Lobbydruck nachgäbe. Ebensogut möglich ist aber, daß er seinen Standpunkt beibehält.

8) Auch abseits der Causa Hinkley Point und dessen Subventionierung könnte ein etwaiger britischer Wunsch, EURATOM-Mitglied zu bleiben, im Kontext des Brexit und all seiner unvorhersehbaren Entwicklungen die atomkritischen Mitgliedstaaten dazu veranlassen, Bedingungen für einen eventuellen Verbleib Großbritanniens in EURATOM zu stellen.

9) Wäre es nicht sogar eine logische Sache für Österreich, Deutschland, Luxemburg und vielleicht auch endlich sich anschließende atomfreie Staaten (Griechenland, Dänemark, Irland) im Gegenzug zu einem solchen EURATOM-Verbleib Großbritanniens die Revision einer Reihe von Artikeln des EURATOM-Vertrages zu verlangen (zB von Artikeln, die von der britischen Regierung und der EU-Kommission zur Rechtfertigung der HPC-Subventionierung herangezogen werden)? Kurzum, angesichts dessen, wie alles nun in Bewegung gerät und vieles aufbricht, kann niemand wissen, wohin eine einmal ins Rollen gekommene Debatte um die Änderung gewisser EURATOM-Bestimmungen führen würde.

*** In jedem Fall bleibt interessant, wie die österreichische Klage beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) gegen die staatliche Subventionierung von Hinkley Point C ausgehen wird. Wie bereits verschiedentlich festgehalten worden ist, wird dieses Gerichtsverfahren seinen normalen Gang gehen, und sei es nur, weil die angeklagte Partei ja die EU-Kommission ist, nicht Großbritannien. Und das Urteil wird von höchster Bedeutung sein, unabhängig davon, wohin sich der Brexit und das AKW-Projekt schließlich hin entwickeln. Der Spruch des EuGH entscheidet schlussendlich auch, ob andere pronukleare Regierungen neue AKWs mit staatlichen Subventionen anschieben können oder nicht.


Fotocredit: Tom Pannwitt / jugendfotos.de