Brexit und EURATOM: Was sagt die Atomlobby?

THE JERUSALEM POST, 17.6.2016. 
Von David Price, Korrespondent in Brüssel. 
(Gekürzt und übersetzt von Heinz Stockinger / HIER finden Sie das Original in Englisch)

Warum Großbritannien nach der BREXIT-Abstimmung den EuropäerInnen gegen den islamistischen Atomterror beistehen wird! Wie reagieren EU-Kommission und europäische Atomindustrie auf das britische Referendum? Die Europäische Kommission will keine klare Meinung zu den Auswirkungen eines BREXIT  abgeben. (...) Was wird passieren, falls die britischen Wähler am 23. Juni 2016 sich für den Austritt aus der Europäischen Union entscheiden? Und die Atomindustrie selbst: geht sie davon aus, daß Großbritannien (GB) ein Vollmitglied der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) bleiben wird, mit allen Privilegien und Pflichten, die damit einhergehen? Es ist mir bisher nicht gelungen, von FORATOM (der zentralen Lobbyvertretung der europäischen Atomindustrie in der EU-Hauptstadt, A.d.Ü.) eine angemessene Antwort auf diese Frage zu erhalten. Weshalb? Weil eine milliardenschwere Industrie auf dem Spiel steht! Die Atomindustrievertreter, so scheint es, halten sich angesichts eines derart kontroversiellen Themas, welches ganz Europa durchbeuteln wird, lieber bedeckt.

Die im Referendum vorgelegte Frage erwähnt die EURATOM-Mitgliedschaft nicht

1957 unterzeichneten westeuropäische Regierungen in Rom zwei Verträge. Der eine der Römischen Verträge hatte die Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zum Gegenstand. Die EWG ist seither zur Europäischen Union ausgebaut worden. Der zweite Römische Vertrag begründete die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM). Er steht weiterhin für sich und in seiner ursprünglichen Form, von geringfügigen Änderungen abgesehen. Die beiden Verträge sind lediglich durch „Protokolle“ aufeinander bezogen.

Nun hat die britische Regierung als Frage zur Volksabstimmung angekündigt: „Soll das Vereinigte Königreich Mitglied der Europäischen Union bleiben oder soll es die Europäische Union verlassen?“ (Das heißt, wie oben gesagt, in der Abstimmungsfrage kommt die Europäische Atomgemeinschaft bzw der EURATOM-Vertrag nicht vor. – A.d.Ü.)

Ich stellte FORATOM einige weitere Fragen:

* Wie steht die Nuklearindustrie zum möglichen Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, wie sie in den Verträgen von Lissabon begründet ist?

* Welche Auswirkungen würde ein EU-Austritt (auf die Kernindustrie) haben?

* Ist Großbritanniens Mitgliedschaft in der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) davon betroffen?

FORATOM antwortete:

„Wir beziehen eine neutrale Position, was die Frage eines möglichen Austritts Großbritanniens aus der EU angeht.

Was Ihre Frage zur Auswirkung des BREXIT auf die britische Mitgliedschaft in EURATOM betrifft, ist Art. 50 des Unionsvertrages (EUV) die einzige Bestimmung, die den Austritt eines Mitgliedstaates aus der Europäischen Union regelt. Dieser Artikel bezieht sich auf „Die Verträge“ (§3). Unserem Verständnis nach muß sich daher ein Mitgliedstaat, wenn er den Austritt aus der EU beschließt, aus allen Verträgen zurückziehen: EUV, AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) und EURATOM-Vertrag. Großbritannien könnte in den Verhandlungen jedoch anstreben, eine teilweise oder volle Mitgliedschaft – oder jegliche andere Form der Assoziierung – in einigen Politikbereichen beizubehalten, etwa beim Binnenmarkt, der Fischereipolitik, dem Wettbewerbsrecht und warum nicht auch bei EURATOM.“

Das hört sich nach einer gebrauchsfertigen Standardantwort aus der Europäischen Kommission an. Stimmt sie aber? Mitnichten. Die Vorstellung, daß EURATOM in der Austrittsbestimmung der Verträge von Lissabon enthalten sei, ist falsch. Artikel 50 (des EUV) befasst sich mit den zwei Lissaboner Verträgen. Diese heißen Vertrag über die Europäische Union (EUV) und Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). EUV und AEUV werden in Art. 48 als „die Verträge“ angesprochen; dieser Art. 48 bildet den Bestimmungsrahmen für „die Verträge“ des Art. 50, und keine weiteren Verträge werden hier erwähnt. Der EURATOM-Vertrag wird in keinem einzigen Artikel des EUV oder des AEUV erwähnt. Daher gibt es keinen Grund und keine gesetzliche Berechtigung, EURATOM in irgendeinen Teil des Art. 50 oder in einen sonstigen Wortlaut des EUV oder des AEUV hineinzuinterpretieren.

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Zwischenkommentar PLAGE:

Autor D. Price hat recht und gleichzeitig unrecht. Denn es kommt nicht darauf an, ob der EURATOM-Vertrag in EUV und AEUV erwähnt ist. Entscheidend ist, dass in der Lissaboner Fassung dem Art. 106 des EURATOM-Vertrags ein Art. 106a hinzugefügt wurde. In diesem 106a wird die Gültigkeit der austrittsrelevanten Artikel von EUV und AEUV für den EURATOM-Vertrag festgelegt.

EURATOM-Vertrag Art. 106a:

1. […] Artikel 48 (2) bis (5) und Artikel 49 und 50 des Vertrages über die Europäische Union sowie [eine lange Reihe von Artikeln] des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union […] finden auf diesen [=EURATOM-]Vertrag Anwendung.“

Dieser Irrtum beeinträchtigt nun aber in keiner Weise die Feststellung, dass der EURATOM ein gegenüber den Unionsverträgen EUV und AEUV eigenständiger, separater Vertrag ist – wie auch die Berichtigung des Irrtums zeigt: EUV und AEUV enthalten keinen inhaltlichen Bestandteil des EURATOM-Vertrages, sondern einzig die Verfahrensbestimmungen für den Fall des Austritts aus EURATOM.

Ungeachtet dieses Irrtums sind die Fragen, die der Autor in der JERUSALEM POST angesichts des möglichen BREXIT im weiteren Verlauf seines Artikels stellt, von Interesse:

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Autor David Price weiter:

Was passiert, wenn die Europäische Kommission trotz (der Getrenntheit von EURATOM-Vertrag und EUV/AEUV) darauf besteht, dass Großbritannien EURATOM verlassen muss? Die Kommission würde damit eigenmächtig entscheiden, dass ein Votum pro EU-Austritt bedeutet, dass das Land auch aus EURATOM austreten muß. Dies scheint in völligem Widerspruch zu den rechtlichen Fakten zu stehen. Und würde einen großen, langen Rechtsstreit vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg heraufbeschwören.

Würde die Atomindustrie akzeptieren, daß all die Verpflichtungen und Privilegien, Finanzierungs- und Förderbefugnisse, rechtlichen und regulatorischen Befugnisse, die mit der britischen Mitgliedschaft in EURATOM einhergehen, „abgeschaltet“ werden? Und das auf Basis dieser zweifelhaften Argumentation (vgl. weiter oben), dass EURATOM in Artikel 50 des Lissabon-Vertrages miteingeschlossen sei? Was passiert mit dem gemeinschaftlichen Eigentum an Spaltmaterial (EURATOM-Versorgungsagentur)? Wie sähe die Zukunft des Joint European Torus (JET)* aus, der saubere Kernfusionsenergie erzeugen soll und Europas Energieabhängigkeit reduzieren könnte? Und was wird neben JET aus ITER (dem anderen, wesentlich größer dimensionierten Fusions-Versuchsreaktor, der in Cadarache in Südfrankreich im Bau ist)?

Kommentar PLAGE

Wie hier bereits anklingt, hat der Autor David Price ein wenig hinterfragtes positives Bild von EURATOM als Garant einer zukunftsträchtigen Energiequelle. Im Schlussteil seines Artikels schlägt er sodann verwegene bis abstruse Verbindungen zu einer vorgeblichen Friedensfunktion von EURATOM, welche aktuell insbesondere gegen islamistischen Nuklearterrorismus wirksam werde. Und zwar bei einem BREXIT noch stärker. Denn dieser führe Großbritannien nicht zwingend aus EURATOM, jedoch aus der EU und ermögliche so mehr demokratische Selbstbehauptung der Briten, des britischen Parlaments gegenüber der demokratiefernen Brüsseler Elite. Damit würde offenbar auch entschlosseneres Vorgehen Europas gegen islamistischen Nuklearterrorismus begünstigt…

(Nachzulesen im vollständigen Artikel der JERUSALEM POST)

* Am Gemeinsamen Europäischen Torus (JET) in Culham, GB, wird seit Jahren eines der technischen Verfahren, mittels Kernfusion Strom zu gewinnen, versucht.


Fotocredit: Gwen Sung/CNNMoney