Taxonomie-Debatte: Österreichs Kreuzzug gegen die Atomenergie.

Heinz Stockinger, Mitglied des PLAGE-Fachbeirats und ehemaliger Obmann, wurde von Le Monde Diplomatique (FR) interviewt.

Der Original-Artikel in Le Monde Diplomatique vom 3.2.2022 findet sich HIER. Anmerkungen & Übersetzung aus dem Französischen: PLAGE / deepl.com. Wir empfehlen einen Artikel aus dem trend zur Sichtweise des offiziellen Österreichs im Hinblick auf die europäische Taxonomie-Verordnung.

Österreichs Kreuzzug gegen die Atomenergie führt zu einem Alleingang in der EU (Anmerk. PLAGE: Österreich ist mit dieser Position nicht alleine). Das Land, in dem die Ablehnung der Kernenergie von der Linken bis zur extremen Rechten Konsens ist, wird ein Verfahren gegen das europäische "grüne Gütesiegel" einleiten.

Ein Artikel von Jean-Baptiste Chastand (Wien, Regionalkorrespondent)

"Österreich hat sich seit vierzig Jahren sehr klar für einen Weg ohne Kernenergie entschieden. Und wir verfolgen diesen Weg sehr konsequent". Die Botschaft mag aus ihrem Büro mit Blick auf die Wiener Innenstadt sehr höflich formuliert sein, aber sie klingt entschlossen. Die grüne Klimaministerin Leonore Gewessler will alles daran setzen, sich den Atomkraftbefürwortern in der Debatte entgegenzustellen, die derzeit in der Europäischen Union (EU) um die Taxonomie, die Klassifizierung der Energiequellen, die den Klimawandel bekämpfen sollen, geführt wird.

Seit die Europäische Kommission Ende Dezember vorgeschlagen hat, Atomkraft als "nachhaltig" einzustufen, hat sich das kleine Österreich mit seinen 8,8 Millionen Einwohnern an die Spitze der Ablehnungsfront gesetzt. In diesem Land, das stolz darauf ist, dass auf seinem Territorium noch nie ein Atomkraftwerk in Betrieb war und fast 80% seines Strombedarfs aus nachhaltigen Quellen erzeugt - die höchste Quote in Europa -, herrscht über diese Position ein parteiübergreifender Konsens, von der Linken bis zur extremen Rechten.

"Die Atomenergie ist eine gefährliche Technologie", sagt die 44-jährige Ministerin Gewessler und argumentiert, dass sie außerdem "zu teuer" und "zu langsam" sei, um zum Kampf gegen den Klimawandel beizutragen: "Erneuerbare Energien sind viel schneller." Ihre Position ist leicht zu vertreten: Österreich bezieht dank seiner montanen Geographie 60% seines Stroms aus Wasserkraft. Doch die ehemalige Leiterin einer Umwelt-NGO und vehemente Atomkraftgegnerin weiß auch, jene Punkte ins Treffen zu führen, die (Anmerk. PLAGE: vor allem dem offiziellen Frankreich) weh tun: "Eines der prominentesten Beispiele ist das Kraftwerk Flamanville [in der Normandie]: Es sollte 2011 eröffnet werden und ist immer noch nicht ans Netz gegangen."

Juristische Guerilla

Im österreichischen Kampf ist Frankreich in der Tat der Hauptgegner. "Es ist kein Geheimnis, dass unsere Positionen sehr unterschiedlich sind", meint die Ministerin. Weniger diplomatisch sind die Aktivisten von Greenpeace Österreich, die sogar vor der französischen Botschaft in Wien "gegen die vehemente Atompolitik Frankreichs unter Präsident Macron" demonstriert haben. Sie wissen, dass sie sich auf die Unterstützung ihrer Regierung verlassen können. Seit 1978 und der abgesagten Inbetriebnahme eines Atomkraftwerks, der eine lange Protestbewegung voranging, gefolgt von einem Referendum, hat Österreich tatsächlich auf Atomkraft verzichtet. Diese Haltung wurde nach der Tschernobyl-Katastrophe von 1986 noch verstärkt.

"In Österreich haben es die Atomkraftgegner geschafft, ihre ideologischen Differenzen zu überwinden", schwärmt Heinz Stockinger, einer der ehemaligen Anführer der damaligen Anti-Atomkraft-Bewegung. "Ganz zu schweigen davon, dass unser föderales Modell es ermöglichte, dass die Debatte nicht so abgewürgt wurde wie im sehr zentralistischen Frankreich." Wie in Deutschland diente die Anti-Atomkraft-Bewegung auch den österreichischen Grünen, die seit Anfang 2020 an der Macht sind, als Taufbecken. Das Koalitionsprogramm der Regierung, das sie mit den Konservativen unterzeichnet haben, sieht ausdrücklich vor, "sich mit allen verfügbaren politischen und rechtlichen Mitteln gegen den Bau und die Erweiterung von Atomkraftwerken in Europa zu wehren".

Seit Jahren hat Österreich vermehrt rechtliche Schritte gegen Atomkraftwerke in seinen Nachbarländern Slowenien, Ungarn, Tschechien und der Slowakei eingeleitet, zum Nachteil dieser ehemaligen kommunistischen Länder, die zu den wichtigsten Unterstützern Frankreichs in dieser Frage gehören. "Im Falle eines Unfalls wären wir die ersten Betroffenen", erklärt die Ministerin, um diesen juristischen Guerillakrieg zu verteidigen. Das Problem ist, dass die österreichische Position angesichts der Dringlichkeit des Klimawandels auf europäischer Ebene in der Minderheit bleibt (Anmerk. PLAGE: das bleibt abzuwarten).

Auch wenn sie versichert, "die Unterstützung von Luxemburg, Deutschland, Spanien, Dänemark und Portugal" zu haben, weiß Ministerin Gewessler, dass dies nicht ausreicht, um (Anmerk. PLAGE: im Ministerrat) eine Mehrheit gegen den "delegierten Rechtsakt", dem von Brüssel gewählten, vereinfachten Rechtsweg, zu erreichen (Anmerk. PLAGE: wir sind jedoch hoffnungsvoll, dass sich im Europäischen Parlament eine Mehrheit gegen die Aufnahme von Atomenergie in die Taxonomie formiert). Daher kündigte sie am Mittwoch, dem 2. Februar, ihre Absicht an, ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof einzuleiten. "Die Kommission hat Verfahrensfehler begangen und es gibt keine Rechtsgrundlage dafür, einen delegierten Rechtsakt zu erlassen", begründet sie. Bisher hat sich nur Luxemburg verpflichtet, ihr auf diesem Weg zu folgen. Und bislang hat Österreich die meisten seiner auf europäischer Ebene angestrengten Klagen gegen die Atomkraft verloren (Anmerk. PLAGE: bislang eine Klage gegen die Subventionserlaubnis des britischen AKW-Neubaus Hinkley Point C).

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